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Gedenkrede Dr. Reimer Möller 4.5.2019

Reimer Möller

Gedenkrede am 4.5.2019 auf dem russischen Ehrenfriedhof Gudendorf

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesen Tagen vor 74 Jahren endete die Herrschaft des Nationalsozialismus, nachdem sich die Rote Armee bis in den Garten der Reichskanzlei in Berlin, die US-Armee an den Alpenrand und die britische Armee bis auf den Rathausmarkt in Hamburg vorgekämpft hatten. Am 7.5.1945 marschierte die 7th armoured Division der britischen Armee auf der Reichsstraße 5 über die Kanalbrücke bei Grünenthal nach Dithmarschen ein.

Für die rund 250 sowjetischen Soldaten, die auf diesem Friedhof begraben sind, kam die Befreiung zu spät. Sie haben ihre Kriegsgefangenschaft in Schleswig-Holstein nicht überlebt. 

Da ja in der NS-Ideologie die Bevölkerung der Sowjetunion als große politische und rassische Gefahr galt, ließ die Wehrmacht ihre sowjetischen Kriegsgefangenen zunächst an Versorgungsmängeln zugrunde gehen. Dies auch in Norddeutschland, und zwar in den sogenannten „Russenlagern“ der Lüneburger Heide Fallingbostel (Stalag XI B), Wietzendorf (Stalag X D (310)) und Oerbke (Stalag XI D (421)). Die Zahl der Opfer beläuft sich für Fallingbostel und Oerbke auf 30000-40000 Tote bzw. 16000 Tote für Wietzendorf.

Als das Scheitern der Offensive vor Moskau im Herbst 1941 weitere „Blitzkriegs“-Siege unmöglich machte, sahen sich die Verantwortlichen der NS-Führungsspitze zu einem Politikwechsel gezwungen. In dem sich abzeichnenden langen Abnutzungskrieg würde es auf die Leistungsfähigkeit der Kriegswirtschaft ankommen. Die äußerst gesteigerten Produktionsanforderungen an Industrie und Gewerbe einerseits und – auf der anderen Seite die millionenfachen Einberufungen zur Wehrmacht sorgten aber für einen eklatanten Arbeitskräftemangel. 

Um die Lücken zu schließen, wurden zwischen 11 und 14 Millionen ausländische Frauen und Männer aus den okkupierten Gebieten Europas als Zwangsarbeitskräfte nach Deutschland deportiert. Auch die Arbeitskraft der 4,5 Millionen Kriegsgefangenen galt nun als unverzichtbar und daher wurden Lebensbedingungen auch für die sowjetischen Gefangenen so eingerichtet und die Nahrungsmittelversorgung so bemessen, dass die Arbeitskraft erhalten bleiben konnte. Der Arbeitseinsatz der ausländischen Kräfte erfolgte flachendeckend auch in Schleswig Holstein. Dem Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager X A in Schleswig unterstanden bis zu 71966 (1.5.44) Gefangene, darunter bis zu 23280 (1.1.45) Angehörige der Roten Armee der Sowjetunion. 

Regionaler Schwerpunkt des Einsatzes sowjetischer Kriegsgefangener war seit November 1941 Dithmarschen. Da sie wegen der mörderischen Bedingungen in den Lagern in der Lüneburger Heide in schlechter körperlicher Verfassung waren, starben sie in großer Zahl. Darüber berichtete Ferdinand Diekmann, kommissarischer NSDAP-Kreisleiter des Kreises Süderdithmarschen und Bürgermeister in Meldorf, der NSDAP-Gauleitung in Kiel: 

„Im Kreisgebiet sind bisher schon fast 1.000 Sowjetgefangene zum Einsatz gekommen … Die … sowjetischen Gefangenen bieten ein erschütterndes Bild. Dadurch, daß sie in unvernünftiger Weise das zur Verfügung gestellte Essen aufnehmen und dazu rohes Gemüse in unvernünftiger Weise vertilgen, ist bereits eine erhebliche Sterbezahl bei den Sowjetgefangenen zu verzeichnen. Bisher beträgt diese Zahl wohl schon etwa 10 %. Es handelt sich hier nicht um seuchenhafte Krankheiten, sondern die Gefangenen verenden an der Kostveränderung…. Es wäre doch wohl besser, wenn für den Arbeitseinsatz bereitgestellte Sowjet-Russen auch in solchem Zustand übergeben würden, daß sie hier nicht in einer so erheblichen Zahl verenden. Dies geschieht doch sicherlich besser in den Massenlagern. Trotzdem die Bevölkerung einen Haß gegen die Sowjet-Russen in sich trägt, wirkt sich das Sterben dieser Russen stimmungsmäßig nicht günstig aus.“

Das Verb „verenden“ bezeichnet im gängigen Sprachgebrauch das Sterben von Vieh und nicht von Menschen. In seiner Wortwahl zeigte sich Ferdinand Diekmann als radikal inhumaner antirussischer Rassist. Sein Hass war eliminatorisch; gegen das Massensterben sowjetischer Gefangener an sich hatte er nichts. Es solle nur besser abgeschirmt stattfinden. Sonst müsse man um die NS-konforme politische Stimmung in Dithmarschen fürchten. Das heißt immerhin, dass er nicht davon ausging, dass die Dithmarscher Bevölkerung seinen Rassenhass in seiner mörderischen Qualität teilte.

In anderen Gegenden Schleswig-Holsteins war die Sterblichkeit der sowjetischen Kriegsgefangenen gleichfalls herausragend hoch. Deshalb richtete die Wehrmacht das zentrale „Erweiterte Krankenrevier Heidkaten“ bei Kaltenkirchen ein, das im April 1944 nach Gudendorf verlegt wurde. In dieses Krankenrevier wurden alle sowjetischen Kriegsgefangenen aus Schleswig-Holstein eingeliefert, wenn sich schwerere Gesundheitsprobleme zeigten. Bekannt gemacht hat diese Einrichtung Gerhard Hoch. Sein Artikel ist 1985 erschienen. Angesichts der Massengräber beim Lagergelände charakterisierte Hoch das „Erweiterte Krankenreviers“ als „Sterbelager“. 

Seitdem russische Archive zugänglich sind, konnten neue Quellen ausgewertet werden, die Kriegsgefangenen- Personalkarteikarten der Wehrmacht, die die US-Armee erbeutet und der Roten Armee übergeben hatte, und eine namentliche Aufstellung der Roten Armee vom November 1945, in der 1500 Soldaten verzeichnet sind, die von 1941-1945 im Bezirk des Stalag XA Schleswig verstorben sind. Daraus ergab sich, dass in Heidkaten 450 Rotarmisten gestorben sind, die große Mehrheit zwischen Dezember 1941 und April 1942. In den drei Jahren danach war die Sterblichkeit in Heidkaten und nach der Verlegung hier in Gudendorf verhältnismäßig gering. Das heißt, dass die Charakterisierung des Erweiterten Krankenreviers Heidkaten als „Sterbelager“ für die ersten fünf Monate zutrifft, für die folgenden drei Jahre aber nicht mehr. 

Auch hier in Gudendorf kam es wegen fehlender Quellen zu falschen Annahmen. In Unterlagen des Landesinnenministeriums war die Rede davon, auf diesem Friedhof seien mehr als 3000 Tote bestattet. Das Landesamt für Bodendenkmalpflege hat hier vor einigen Jahren nach Hinweisen aus der Bevölkerung Verdachtsflächen sondiert, um Massengräber zu finden. Gefunden wurde keins. Die erwähnte sowjetische Namensaufstellung vom November 1945 führt 34 Gudendorf-Tote auf. 

Die erste Ehrengrabanlage, die hier im Sommer 1945 angelegt wurde, hatte 44 Grabhügel. Überlegungen zu Umbettungen aus vereinzelten Kriegsgräbern auf zentrale Ehrenfriedhöfe gab es in der Landesregierung in Kiel seit 1952. In Gudendorf sollte der zentrale russische Ehrenfriedhof entstehen. Im November 1960 waren 248 Umbettungen nach hier beendet. 

Allein 80 Exhumierte stammten aus Broweg, heute Gemeinde Risum-Lindholm im Kreis Nordfriesland. Das dortige Kriegsgefangenen-Arbeitskommando 1023 war für Unteroffiziere der Roten Armee bestimmt, die auf Einhaltung der Genfer Kriegsgefangenenkonvention bestanden. Danach hätten sie nicht zu körperlicher Arbeit gezwungen werden dürfen, aber genau das geschah in Broweg. Broweg ist nach Heidkaten die Kriegsgefangeneneinrichtung in Schleswig-Holstein mit der zweitgrößten Sterblicheit. 

1961 wurden hier die Gartenbauarbeiten erledigt und das Denkmal aufgestellt. Siegried Assmanns Skulptur zeigt den Fährmann Charon, der die Seelen der Toten über den Acheron, den Fluss des Leides und des Schmerzes, übersetzt. Über den Beweggrund dieser Motivwahl schrieb das Innenministerium in Kiel: „Für die Form des Mals wurde, um nicht russische Embleme oder andere Zeichen der russischen Wehrmacht“ – so heißt es in der Quelle – „verwenden zu müssen, bewußt ein neutraler Begriff der griechischen Mythologie gewählt.“ 

Mit der Einweihung am Volkstrauertag 1964 war, wie das Innenministerium an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge schrieb, das Ziel erreicht, den „Toten – Angehörigen der verschiedenen Nationen, Soldaten und Zivilisten, die Opfer des Krieges geworden sind – in dem ihnen gebührenden würdigen Rahmen dauernde Ruhe finden. Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung!“ Damit wurde die deutsche Nachkriegsgesellschaft einbezogen und die Erinnerung mit friedenspädagogischen Zielen verknüpft.

Über Inhalte des Gedenkens entwickelte sich hier ebenso wie auf nationaler Ebene ein breiter politischer Konsens erst nach und nach. Bundespräsident Richard von Weizäckers Rede zum vierzigsten Jahrestag der Befreiung am 8.5.1985, in der er sich für kritische und selbstreflexive Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und Schuld aussprach, war ein Meilenstein. 

Heute 74 Jahre nach der Befreiung steht unsere Gesellschaft anders unter Druck als zu von Weizsäckers Amtszeit. Überall in Europa verlieren die etablierten liberal-konservativen und sozialdemokratischen Parteien ihre Bindekraft. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien ziehen in die Parlamente ein. Antisemitische und andere gruppenbezogen feindselige Einstellungen nehmen zu. 

Es ist wichtig, an diesem Tag an NSDAP-Kreisleiter Diekmanns Rassismus zu erinnern und daran, dass die von seiner Partei angeleiteten Exekutivorgane des Staates die Menschwürde der sowjetischen Gefangenen fundamental missachtet haben. Die besonders bösartige Programmatik dieser Partei hat Millionen Opfer gefordert – darunter die Toten, die her bestattet sind.

Als Konsequenz aus der deutschen Geschichte lautet seit 1949 Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Wertvorstellungen unseres Grundgesetzes bzw. des Grundrechtekatalogs der Weimarer Reichsverfassung hatten gerade hier in Dithmarschen besonders wenige Anhänger. Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 entschieden sich 78,7% der Gudendorfer für die NSDAP, im Kreis Süderdithmarschen entfielen 59,8% auf diese Partei.

Es gibt heute besondere Veranlassung – und gerade bei diesem Traditionserbe -alles zu tun, demokratischen Grundwerten Geltung zu verschaffen.